Thesen zur Position der Kirche in den derzeitigen Herausforderungen von Univ. Prof. Dr. Leopold Neuhold

  1. Corona hat die Grenzen der Machbarkeit aufgezeigt. Wir brauchen eine Erkenntnis zur Anerkenntnis von in der Natur und der Gesellschaft vorgegebenen Lebensbedingungen, die uns nach richtigen Strategien suchen lassen. Die mit der Corona-Epidemie verbundene Verlangsamung mancher Lebensverhältnisse sollte uns zum Nachdenken darüber bringen, was an Beschleunigung uns und der Gesellschaft gut tut und wo wir gründlicher überlegen sollten.
  2. Unter den Bedingungen eines Ausnahmezustandes sind zum Teil in der Entwicklung auseinanderstrebende Bereiche wie Gesundheit, Politik, Wirtschaft, Umwelt oder Kultur enger zueinander in Beziehung gesetzt worden und in neuen Priorisierungen auch wieder auseinandergerückt. Eine Lehre aus der Krise besteht darin, die Bereiche wieder stärker zusammenzudenken, um vermehrt Bezüge der einzelnen Bereiche zueinander und zum Ganzen eines gelungenen Lebens für den einzelnen und die Gesellschaft schaffen zu können.
  3. Das Verhältnis von Einzelperson zur Gesellschaft in den verschiedenen Dimensionen muss überdacht werden. Menschenrechte der Person können nur ernst genommen werden, wenn die Verbindung von Person und Gesellschaft geachtet wird, wenn aus einem unbezogenen Individualismus ein auf andere und die Gesellschaft bezogener wird. Die Forderung nach sozialer Distanzierung ist missverständlich, vielmehr soll die Notwendigkeit räumlicher Distanzierung so gestaltet werden, dass soziale Distanzen überwunden werden. So überlegen sich etwa kirchliche Verantwortungsträger, wie seelsorgliche Nähe bei Einhaltung von räumlicher Distanz aufgebaut werden kann, indem beispielsweise digitale Möglichkeiten erschlossen werden.
  4. Weil es um den ganzen Menschen geht (Ganzheitsgrundsatz), hat Kirche das Recht und die Pflicht, sich in die Gestaltung der Verhältnisse in den verschiedenen Bereichen wie Politik und Wirtschaft einzubringen. Zugleich ist sie angehalten, in ihrem Einsatz für den ganzen Menschen in der Zusammenarbeit mit Vertretern anderer Bereiche die Eigengesetzlichkeiten dieser Bereiche zu achten (Differenzgrundsatz), um in Bescheidenheit und Entschiedenheit mit anderen zusammen bestmögliche Lösungen zu finden, ohne den Anspruch zu erheben, die Lösung gefunden zu haben (Toleranzgrundsatz).
  5. Kirche in ihren Einrichtungen und Mitgliedern muss leidenschaftlich für die Menschen, besonders für die, die keine Anwälte haben und vergessen und abgeschoben zu werden drohen, eintreten. Dies bedeutet eine besondere Option für die Armen in der Entwicklung von Strategien, diese aus der Armut herauszuführen. Achtung vor der Würde der Armen bedeutet auch ein Ernstnehmen ihrer Möglichkeit der Übernahme von Verantwortung dort, wo sie Handlungsmöglichkeiten besitzen. Das Motto „Der Mensch als Mittelpunkt“ darf im Zugriff auf den Menschen nicht pervertieren in die Devise „Der Mensch als Mittel. Punkt!“. Nach dem obersten Grundsatz der christlichen Soziallehre muss „der Mensch der Träger, Schöpfer und das Ziel aller gesellschaftlichen Einrichtungen sein. Und zwar der Mensch, sofern er von Natur aus auf Mit-Sein angelegt und zugleich zu einer höheren Ordnung berufen ist, die die Natur übersteigt und diese zugleich überwindet.“ So heißt es in der Enzyklika Mater et Magistra. Dieser Satz muss für die Kirche, aber auch für alle gesellschaftlichen Einrichtungen leitend sein.
  6. Damit das Personprinzip für alle gelten kann, bedarf es der Solidarität und der Achtung des Gemeinwohls. Das Solidaritätsprinzip fordert den Einsatz dort, wo Begegnung und Teilen zur Entfaltung beitragen kann. Die Solidarität ist an die Möglichkeit zu handeln gebunden. Im Sozialstaat, der strukturellen Seite des Solidaritätsprinzips, werden die Voraussetzungen für das Gemeinwohl, das es den einzelnen erlaubt, ihre Verwirklichung zu steigern, gelegt. Der Sozialstaat verbindet die anthropologische Grundlage der Ergänzungs- und Hilfsbedürftigkeit des Menschen mit seiner Fähigkeit, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Der Sozialstaat braucht damit die Ergänzung durch die Sozialgesellschaft. Hier ist Kirche besonders gefragt.
  7. Mit dem Subsidiaritätsprinzip wird der Aufbau der Gesellschaft von unten mit dem Belassen der Verantwortung bei den Einzelnen und den kleineren Einheiten, insofern sie die Verantwortung tragen können, gefordert. Das Einfordern von Eigenverantwortung und deren Realisierung führt zu einer freien Gesellschaft, in Abwehr einer vom Staat bestimmten Bevormundung. Es gilt nicht nur Ansprüche für sich zu stellen, sondern auch Ansprüche an sich. Subsidiarität ist getragen von der Bereitschaft, für die Folgen seines Handelns einzutreten.
  8. Gerade in beengenden Situationen wie der Coronakrise ist in allen Maßnahmen der Bekämpfung dieser Krise auf Nachhaltigkeit und Bewahrung der Schöpfung zu achten. Wie Papst Franziskus in seiner Enzyklika Laudato si zeigt, sind soziale und ökologische Ziele nur in Abstimmung aufeinander zu erreichen. Bewahrung der Schöpfung bedeutet eine Voraussetzung zur Erreichung sozialer Ziele, wie es auch umgekehrt der Fall ist. Dies bedeutet auch neue Weichenstellungen für das Feld der Arbeit.
  9. Das Verständnis von Arbeit steht unter der Klammer von „Arbeit ist mehr“ und „Arbeit ist nicht alles“. In der Gestaltung der Arbeitswelt muss darauf geachtet werden, dass die Funktionen der Arbeit (Produktion, soziale Eingliederung, Sinnerfüllung des arbeitenden Menschen, Mitarbeit an der Schöpfung) verwirklicht werden können. Damit wird Arbeit ein wesentlicher Faktor für ein sinnerfülltes Leben sowohl von einzelnen wie auch der Gesellschaft. Zugleich ist aber auch zu betonen, dass Arbeit nicht alles ist, dass das Menschsein und gesellschaftliches Zusammenleben nicht nur über Arbeit bestimmt wird, sondern ein integrales Lebenskonzept in Einbeziehung aller Bereiche menschlicher Verwirklichung das Ziel darstellt. In Ausweitung des heute auf das Muster industrieller Arbeit bezogenen Arbeitsverständnisses und in einem daraus folgenden Arbeitsmix kann das Ziel eines Grundeinkommens mit Arbeit für alle angestrebt werden. Dazu gilt es auch Konzepte eine allgemeinen Grundeinkommens zu diskutieren.
  10. Arbeit steht unter der Forderung „Arbeite wirtschaftsgerecht!“ Weil Wirtschaft mehr ist als Wirtschaft muss diese Forderung ergänzt werden durch die Imperative: „Arbeite menschengerecht, arbeite mitweltgerecht, arbeite zukunftsgerecht, arbeite gesellschaftsgerecht!“ Ein religiöser und ethischer Zugang zur Weltgestaltung besteht in der Beachtung der Beziehungen, in denen der Mensch steht und einer Fokussierung dieser Beziehungen in der Person, und zwar in Bezug auf alle Menschen in der globalisierten Welt. Dabei dürfen besonders die Menschen in der sogenannten Dritten Welt und die Flüchtlinge nicht vergessen werden.

 

Universitätsprofessor Dr. Leopold Neuhold war langjähriger Lehrender am Institut für Ethik und Gesellschaftslehre an der Katholischen Fakultät an der Karl-Franzens-Universität Graz und ist Programmreferent des Steirischen ÖAAB.

Seine Forschungsschwerpunkte sind katholische Soziallehre, Wertewandel, Religionssoziologie, Jugendsoziologie, moderne Gesellschaft und katholische Soziallehre, Friedensethik sowie Sportethik. Aktuell beschäftigt er sich vor allem mit Fragestellungen in Zusammenhang mit dem Thema Digitalisierung. Weiters ist er Mitglied des neuen Forschungsschwerpunktes der Karl-Franzens-Universität Graz „Smart Regulation“, welcher sich ebenfalls mit dieser Thematik auseinandersetzt.

Leopold Neuhold ist verheiratet und Vater von vier Kindern. Er lebt mit seiner Familie in Kirchberg an der Raab.